Der spirituelle Mensch
Merkmale des spirituellen Menschen: Welt als eine Bühne sehen - Weltskepsis - Wahrheitssuche und Bescheidenheit - mehr Sein als Schein und Gottvertrauen
Den spirituellen Menschen treffen wir manchmal, nicht sehr oft, denn er gehört sicher zu einer seltenen Spezies. Ähnlich wie der radikale Mensch [1] ist er eine Sonderform des Menschseins, die wahrlich schwer zu beschreiben ist. Ich will es trotzdem versuchen. Hier sind die aus meiner Sicht wichtigsten Aspekte:
· Spirit und Geist – zwei Paar Schuh: Obwohl die deutsche Sprache sehr nuancenreich ist, versagt sie, wenn es um die Unterscheidung zwischen Geist und Spirit geht. Im englischen Sprachraum wird hier zwischen „spirit“ und „mind“ unterschieden. Das Wort „spirit“ bedeutet zwar auch das alkoholische Getränk des Schnapses, aber in einem anderen Kontext gebraucht auch die Seele oder ein überirdisches Wesen [2]. Das Wort „mind“ bedeutet in erster Linie Verstand oder Meinung [3] und wird im Kontext des Alltages so verwendet, dass hiermit das Verstehen im direkten Sinne gemeint ist. Da aber im deutschen Sprachgebrauch diese Unterscheidung nicht existiert, wird das Wort „Geist“ meist dann verwendet, wenn es um geistige Vorgänge des Denkens, des unmittelbaren Verstehens oder des Erfassens von Sachverhalten der verschiedensten Art geht. Es wird dann auch gerne im psychologischen Sinne von Kognition gesprochen, weil damit alle Prozesse beschrieben werden, die mit der Informationsaufnahme, ihrer Verarbeitung und ihres entsprechenden „Output“ zu tun haben [4]. Mit „Spirit“ ist aber etwas anderes gemeint, das nicht so einfach zu beschreiben ist. Es geht hierbei über den rein informativen Aspekt des Verstehens hinaus. Dies wird dann eher deutlich, wenn vom „spirituellen Weg“ gesprochen wird. Gleichsam wie ein Wanderer, der seine heimischen Gefilde verlässt und sich auf den Weg macht zu einem unbekannten Land, so begibt sich auch ein spiritueller Mensch auf eine unbekannte Reise, wenn er den „spirituellen Weg“ einschlägt. Er hat dabei den Mut, die essentiellen Fragen zu stellen: Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich, wozu bin ich hier? [5] Der Weg des Suchenden auf dem Weg in das unbekannte Land der Welt, die über unsere irdische, materielle Daseinsform hinausgeht, ist das, was mit dem Wort „Spirit“ im Innersten wohl gemeint ist. Wie könnte also nun der spirituelle Mensch beschrieben werden?
· Weltverständnis: Die Welt des spirituellen Menschen geht auf jeden Fall über unsere Alltagserfahrung hinaus. Er versucht auf seinem spirituellen Weg gleichsam die Welt als eine Bühne zu sehen, auf der Theaterstücke aufgeführt werden, in denen anscheinend jeder eine bestimmte Rolle spielt. Diese Rollen werden entweder zugewiesen oder im besten Falle selbst gewählt. Diejenigen, die die Rollen bereitwillig übernehmen, die ihnen angeboten werden, unterscheiden sich noch von denjenigen, die sich diese bewusst wählen. Je nach charakterliche Ausrichtung werden dann wohl anscheinend diese Rollen angenommen oder gewählt: Der Bösewicht oder der Heilige, der Naive oder Skeptiker, der Held oder der Feigling, der Hanswurst oder Wichtigtuer. Diese Rollen scheinen oft diametrale Positionen zu beschreiben, die in dieser Welt angenommen werden können. Jeder, der sich dann in einer dieser Rollen befindet, kann dann diese bewusst mehr oder weniger gut spielen, die vorgeschriebenen Texte gut aufsagen und eben dann vielleicht „gute Miene zum bösen Spiel“ machen, aber ein unbefriedigendes Gefühl des Fremdbestimmtseins bekommen. Der spirituelle Mensch wird gar nicht erst versuchen, eine bestimmte Rolle zu spielen, sondern sich fragen, wer das eine oder andere Theaterstück wohl geschrieben hat, wer hier die Regie führt und ob das Mitspielen überhaupt das ist, was er will.
· Weltskepsis: Der nächste Schritt des spirituellen Menschen ergibt sich bereits aus dem Weltverständnis, die Welt als eine Bühne zu sehen. Er wird diese Welt nicht so akzeptieren, wie sie sich ihm darbietet und nicht gerne eine Rolle übernehmen, die ihm angeboten wird. Er wird eine argwöhnische Haltung einnehmen und zunächst einmal auf Distanz gehen und versuchen, die Welt aus einer anderen, vielleicht auch höheren Welt zu betrachten und deshalb eine Haltung einnehmen, die zu einer Weltverneinung oder im besten Falle zu einer Haltung führen kann, diese Welt nicht als finale Form des Daseins zu akzeptieren, sondern zu versuchen, sie zu überwinden [6]. Diese Weltskepsis ist typisch für den spirituellen Menschen, der dem Alltagsmenschen deshalb oberflächlich erscheinen mag, weil er anscheinend gleichgültig wirkt, wenn es darum geht, in dieser Welt eine „große Rolle“ zu spielen. Der Erfolgstyp, der in unserer Welt meint, sich irgendwie durch eine besondere Art seiner Selbstverwirklichung hervorzutun, wird kein Verständnis für die Weltabgewandtheit des spirituellen Menschen haben und ihn versuchen, ihn zum Mitmachen zu animieren. Die Welt des Politikers, in der der Erfolgsmensch zu Hause ist, wird vom spirituellen Menschen deshalb abgelehnt, weil er sehr schnell spürt, dass er ein Tummelplatz von egozentrischer Narzissten ist, auf dem diese versuchen, sich selbst zu verwirklichen. In den gegenwärtigen Zeiten des politischen Geschehens in Deutschland überkommt doch dem spirituellen Menschen ein Grauen, wenn er sieht, mit welchen Tricks diejenigen sich hier hervortun, die glauben, auf dieser Bühne eine gewichtige Rolle spielen zu können. Die Wahlen im Osten Deutschlands, bei denen der so genannte „Wählerwille“ durch die maßgeblichen Politiker nach eigenem Gusto verbogen wird, zeigen doch auf, wie sehr die Politik, insbesondere durch die Macht der Parteien, zu einem Spielfeld dubioser Figuren geworden ist [7]. Der spirituelle Mensch wird sich auf diese Bühne nicht begeben, sondern sich hiervon abwenden. Auch in anderen Bereichen der Gesellschaft tut sich der spirituelle Mensch schwer, sich zu engagieren wie z. B. in der Wirtschaft, wo es darum geht, sich selbst möglichst teuer zu verkaufen oder andere zu übervorteilen, um selbst einen Profit einzuheimsen. Die geruhsame Tätigkeit in einer Behörde als Beamter, in der er nach vorgefertigten Vorschriften zu funktionieren hat, wird ihn auch nicht begeistern. Könnte er eine freie Wahl treffen, wo er sich in dieser Welt engagieren sollte, dann wird er sich fragen, wo er am ehesten mit seinen Fähigkeiten anderen dienlich sein kann [8].
· Wahrheitssuchender: Die Wahrheit zu finden, ist für den spirituellen Menschen ein unverzichtbarer Bestandteil seines Lebens. Dabei wird er nie aufhören, Fragen zu stellen und sich nicht vorschnell mit Antworten von wissenschaftlichen Autoritäten zufrieden geben. Die Wahrheit als wichtiges Element der „heiligen drei Elemente“ (Wahrheit, das Gute und das Schöne [9] ) gilt als eine Art Schlüssel, mit dem die Welt erschlossen werden kann. Die kindliche Neugierde wird dem spirituellen Menschen nie abhandenkommen. Er wird deshalb auch auf andere mitunter nervig wirken, weil er stets alles hinterfragt, was für andere doch irgendwie selbstverständlich ist. Glaubensdogmen gibt es für ihn nicht. Die herkömmlichen Religionen, vor allem dann, wenn sie durch menschliche Bedürfnisse nach Macht und Einfluss sowie Daseinssicherung geprägt sind, wird er ablehnen oder ihnen zumindest skeptisch begegnen. Die Wahrheit kann für ihn nicht oben diktiert, sondern nur selbst entdeckt werden. Er wird deshalb nicht immer mit dem zufrieden sein, was ihm von anderen als unumstößliche Wahrheiten präsentiert wird, sondern lieber in der Unsicherheit leben, zu wissen, dass er eigentlich nichts sicher weiß [10]. Diese Unsicherheit auszuhalten fällt vielen Menschen schwer, weshalb sie sich gerne mit „Halbwahrheiten“ und „Scheinwahrheiten“ zufrieden geben, weil sie dann sich in einem scheinbaren Sicherheitsgefühl wähnen, etwas sicher zu wissen.
· Bescheidenheit: Es gibt eine Bescheidenheit, die aus der Einsicht herauswächst, niemals ganz sicher im Besitz der Wahrheit zu sein. Deshalb wird die Bescheidenheit als ein wesentliches Merkmal eines spirituellen Menschen zu beobachten sein. Diese Selbstzurücknahme wird sich von der Aufgeblasenheit mancher Zeitgenossen wohltuend abheben, die in ihrer maßlosen Selbstüberschätzung glauben, die Welt mit dem beglücken zu können, was sie wissen und können. Der narzisstische Mensch ist in dieser Hinsicht der krasse Gegenpart zum spirituellen Menschen, weil er sich selbst gerne im Mittelpunkt des Weltgeschehens wähnt und glaubt, dass es ohne ihn nicht ginge, er also eine wichtige Rolle spiele. Diesem fällt es schwer, von dem los zu lassen, was ihm dazu dient, sich selbst in den Vordergrund zu spielen: Macht, Geld, Ruhm. Der Narzisst wird stets versuchen, die Macht so lange wie möglich zu behalten, wird sich an sie klammern und glauben, dass sie ihm nicht verloren gehen kann, solange er sie wie ein trotziges Kind gegen andere verteidigt. Der Geizige wird jeden Cent wichtiger nehmen als Menschen oder andere Lebewesen und glauben, dass er mit Geld alles kaufen kann und der Prominente, der aufgrund günstiger Umstände im Rampenlicht des Lebens steht, wird stets das Scheinwerferlicht der Weltbühne anhimmeln, weil er glaubt, dass dieses sein vielleicht dürftiges Dasein erhellen kann. Alles dies ist dem spirituellen Menschen unwichtig, weil er weiß, dass es alles vergängliche Dinge sind, die so schnell verloren gehen können, wie sie gewonnen werden.
· Mehr Sein als Schein: Erich Fromm hat in seinem Buch vom „Sein oder Haben“ [11] sehr gut den Unterscheid zwischen Sein und der auf der Haben-Struktur beruhenden Lebensweise des Scheins beschrieben. Der schöne Schein beruht auf einer Daseinsform, die auf das Festhalten von Dingen beruht, auf dem Besitzen von allem, was diese Welt zu bieten hat. Diese können vorgeführt, der Welt vorgezeigt werden mit der Absicht: Seht her, das habe ich alles errungen, das sind meine eroberten Trophäen, das ist mein Vermögen. Die Werbung hat dieses Ansinnen, durch das Vorzeigen von dem, was man hat, die eigene Person aufzuwerten und damit eine Scheinwelt zu präsentieren, geschickt genutzt [12]. Das Sein hingegen beruht auf dem Lebendigen, das nicht auf das Festhalten beruht, nicht auf das Besitzen materieller Güter, sondern auf das Verwirklichen eines wirklichen, authentischen Sein-Wollens abzielt. Das „Haben-Wollen“ hat etwas damit zu tun, dass wir das Lebendige beschränken und letztendlich töten müssen, um es wirklich haben zu können, weil die Freiheit und letztendlich das Lebensrecht des anderen immer tangiert wird, wenn wir etwas oder jemanden haben wollen. Wer die Blumen pflückt, um dann diese Blumen zu haben, muss sie vorher aus ihrer angestammten Daseinsform herausreißen, sie letztendlich töten, um sie dann in eine Vase zu stellen, in der sie dann verkümmern und sterben. Die Tiere im Zoo müssen ihrer Freiheit beraubt werden, damit sie in dem eingehegten Dasein, das von Menschen geschaffen wurde, ein erniedrigendes Leben führen können. Der spirituelle Mensch wird die Daseinsform des Seins bevorzugen, weil sie die Freiheit aller Daseinsformen erst ermöglicht und allem dabei hilft, sich zu entfalten und weiter zu entwickeln. Der schöne Schein steht dann hinter dem wirklich lebendigen Sein.
· Sicherheit im Gottvertrauen: Der spirituelle Mensch ist ein religiöser Mensch. Religion wird bei ihm keinesfalls als ein auf Dogmen, festen Regeln, Heilsversprechen und heiligen Ritualen bestehendes System gesehen, sondern geht in die Richtung, wie dies auch Jesus beschrieben hat, nämlich als ein kindliches Annehmen der Sicherheit, wie sie ein guter Vater seinem Kind geben kann (Matthäus 18, 2-4 [13] ). Die Unsicherheit in unserer Welt, die die Versicherungsbranche geschickt nutzt, um eine Absicherung aller Lebensrisiken zu versprechen, dient letztendlich den Mächtigen unserer Welt, ihre Vorherrschaft zu behaupten. Sie suggerieren den aus ihrer Sicht gesehenen Untertanen eine Scheinsicherheit, indem sie ihnen vorschlagen, dass diese ihnen ihrer Freiheit opfern sollen, um als Gegenleistung diese Art der Sicherheit zu erhalten. Leider erweist sich dies immer wieder eine Falle, in die viele Menschen hineintappen, denn sie opfern dabei leider beides: Sicherheit und Freiheit. Ganz anders geht es dem spirituellen Menschen, der auf diese Scheinsicherheit gerne verzichtet und deshalb nicht auf die geschickten Manöver der Mächtigen hereinfällt. Der Grund besteht tatsächlich in dem naiven Gottvertrauen, das ihm hilft, die Unsicherheit unserer materiellen Daseinsform zu ertragen. Unter der Voraussetzung eines Gottes, der wie eine ewige Kraftquelle von Anfang existiert und über allem Geschaffenen seine schützende Hand hält erscheint es absurd anzunehmen, dass alles Relative, also alles Geschaffene, dann in Unsicherheit gelassen würde. Die Vergänglichkeit unseres Daseins und aller damit verbundenen Scheinsicherheiten verschwinden angesichts dieser Annahme im Nichts und weichen einer Zuversicht, die dem allem trotzt.
Der spirituelle Mensch ist der eigentliche Mensch, der sich abhebt von dem Menschen, der diese Art Geistigkeit zugunsten von Scheinsicherheiten aufgegeben hat. Ein spiritueller Mensch zu sein ist und sollte deshalb für jeden erstrebenswert sein. Für mich ist der spirituelle Weg die wahre Daseinsform, die trotz aller Hindernisse nicht verzichtbar ist..
©beim Verfasser
[10] Diese Einsicht geht auf die Antike zurück und zwar auf den griechischen Philosophen Sokrates, der dies in seiner Verteidigungsrede so formuliert hat: „ Allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“ https://www.die-inkognito-philosophin.de/blog/ich-weiss-dass-ich-nichts-weiss
[12] Der Werbespot der Sparkasse von 1995, in dem sich zwei alte Bekannte treffen und mit ihren Errungenschaften prahlen, zeigt, auf was es scheinbar ankommt in dieser Welt. Zuerst prahlt Herr Schröder mit Fotos, auf denen seine Besitztümer abgebildet sind und sagt: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot.“ Herr Schober kontert ebenfalls mit Bildern und sagt: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ und ergänzt „meine Pferde (es werden Bilder von Pferden gezeigt) und meine Pferdepflegerinnen (Fotos von drei hübschen Frauen werden gezeigt)“.
[13] Jesus: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen. 4 Wer sich so klein macht wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.“ https://www.bibleserver.com/EU/Matth%C3%A4us18









