Ist das Gebet der "Königsweg" zu Gott?
Gebet ist ein rein geistiger Vorgang, der nicht öffentlich und mit anderen vollzogen werden soll - wir sind Partner Gottes - wir sind (fast) göttlich - das Beten ist anders
Beten stellt für religiöse Menschen die Möglichkeit dar, mit Gott in Kommunikation zu treten. Diese Art der Kommunikation hat viele Formen entwickelt, die durch kulturelle Einflüsse beeinflusst wurden. Sollten wir überhaupt beten und wenn ja, wie sollten wir beten? Wäre das Beten in der Gemeinschaft zu bevorzugen oder sollte es ein singulärer Vorgang sein? Sollten wir eine bestimmte Haltung einnehmen? Sollten wir laut beten oder nur in unserem Geist?
- Gebete sind überflüssig!? Ich hatte bereits einmal in einem Artikel behauptet, dass ich das Beten für eine eigentlich überflüssige Aktion halte [1]. Im Wesentlichen bezog ich mich hierbei vorwiegend auf „Bittgebete“, d. h. auf die Vorstellung, dass ein allmächtiger Gott dafür sorgen solle, dass das, was ich als Mensch nicht bewerkstelligen kann, für mich regeln solle. Grob gesagt, hielte ich dies mit dem Gerechtigkeitsgedanken für unvereinbar, denn wenn tatsächlich Gott dann dem einen hülfe, ihm eine Bitte z. B. für eine Gesundung erfülle, geriete er in das Dilemma erklären zu müssen, warum er einem anderen, der ebenfalls um Hilfe gebeten hatte, nicht geholfen hat. Hierbei spielte das Grundkonzept eine entscheidende Rolle, dass der Mensch Gott gegenüber in einer untergeordneten Rolle stehe, von ihm abhängig sei und das Beten dann eine Art Unterwerfungsgeste darstelle. Die Botschaft, die Gott Neal Donald Walsch übermittelte, ist aber eine andere: Gott sieht den Menschen als einen Partner an, wobei die strikte Trennung zwischen einem allmächtigen Gott und einem schwachen Menschen aufgehoben wird, sich zumindest verflüchtigt, je mehr der Mensch in sich selbst seine eigene Göttlichkeit erkennt [2]. Wie kann aber diese Vorstellung der Aufhebung der strikten Trennung glaubhaft gemacht werden? Würde dann damit nicht unser gesamtes religiöses Konzept durcheinander geraten? Die Mächtigkeit des Menschen, die immer von ihm angestrebt wird, in dem Bestreben, Gott gleich zu werden, ihm seine Vorherrschaft wegzunehmen, würde auf eine Art Anarchie hinauslaufen. Auf dem Hintergrund eines solchen Weltbildes könnte das Gebet tatsächlich für überflüssig erklärt werden. Genauer gesagt: Das an einen übermächtigen Gott gerichtete Gebet wäre dann als eine Unterwerfungsgeste überflüssig, weil es die Autorität eines allmächtigen Gottes nicht mehr gäbe. Bevor ich aber diesen Gedanken weiter verfolge, will ich zuvor jedoch noch auf die traditionelle Vorstellung des Gebetes eingehen.
- Gebete als „sozialer Kitt“: Gebete, insbesondere, wenn sie in der Gemeinschaft gesprochen werden, bilden ein Bekenntnis zu dem traditionellen Gottesbild ab, das gleichzeitig auch eine Verbindung zwischen denen herstellt, die gemeinsam beten. Durch das gemeinsame Gebet wird signalisiert: Seht hier, ich bin einer von euch. Ich habe die gleiche Vorstellung wie ihr, ich teile wie ihr auch die Vorstellung, dass Gott unser gemeinsames Gebet erhört und auch beachten wird. Dazu versammeln sich die Gläubigen in einem gemeinsamen Raum, der dann sogar bisweilen als „Gotteshaus“ bezeichnet wird. Dabei wird so getan, als Gott in dem Augenblick des Gebetes anwesend sei und zuhöre. Diese Vorstellung wird von allen geteilt und würde sozialpsychologisch als Gruppennorm definiert werden, die unausgesprochen gültig ist: Wir glauben alle, wenn wir ein Gebet sprechen, dass Gott uns anhört und sich der geäußerten Wünsche annimmt und dass er unsere Lobpreisungen zu schätzen weiß. Das stärkt das „Wir-Gefühl“ [3] , das eine gemeinsame Identität schafft, was die Beziehung stabilisiert, aber auch eine Abgrenzung nach außen schafft: Wer hier nicht mitmacht, gehört dann nicht zu uns. Deshalb würde jeder, der bei einem gemeinsamen Gebet nicht mitmacht, z. B. das gemeinsame Vaterunser nicht mitbetet, sehr schnell als „Nicht-zugehöriger“ definiert werden können.
- „Verstärkungseffekt“ des gemeinsames Gebetes: Vor allem das gemeinsame Gebet gilt für Gläubige als wichtiges Element, das neben dem Effekt als soziales Bindungsglied auf dem Gedanken beruht: Viel hilft viel. Wenn z. B. der Papst sogar in einem Stadion gemeinsam betet [4] , wird damit die Vorstellung verbunden, dass das besonders wirksam sei. Diese Vorstellung wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, indem z. B. die Kirchen zu Gebetswochen auffordern [5]. Unausgesprochen gilt hier die Devise: Wenn so viel für einen bestimmten Zweck beten, kann das doch nicht wirkungslos bleiben. Der Glaube, dass die gemeinsamen Gebete nicht unerhört bleiben mögen, trägt seine Wirkung in sich, bestärkt die daran teilnehmen Christen in ihrem Glauben. Aber ist die Annahme berechtigt, dass Gott dann besonders zu beeindrucken ist?
- Jesus und das Gebet: Der Lehrmeister, auf den sich die Christen beziehen, sollte eigentlich Jesus Christus sein. Was hat er nun zum Beten gesagt?
- Beten ist ein geistiger Vorgang: Für Jesus war das Beten ein vornehmlich geistiger Vorgang, der keiner äußeren Rituale bedarf. Deutlich wird dies in dem Gespräch mit der Samaritanerin, die er bat, ihm zu trinken zu geben. Im Gegenzug bot er ihr an, ihr aus einer Quelle zum Trinken zu geben, die es ihr ermöglichte, niemals mehr Durst zu haben. Hierbei wies er auf einen wichtigen Sachverhalt im Hinblick auf das Beten hin: Das Gebet stellt ein vornehmlich geistiger Vorgang dar. Wörtlich sagte er (Johannes 4,24): Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten [6] . Er stellte klar, dass es das Ziel sei, weder Gott auf einem Berg, noch in Jerusalem anzubeten. Das Beten stellte für ihn also eine rein mentale Verbindung dar, die zu einer besonderen Verbindung mit Gott führt, die eben nicht von einem bestimmten Ort, sondern von dem geistigen Zustand des Betenden abhängig ist, der sich „in der Wahrheit“ befinden solle. Dies könnte so interpretiert werden: In der geistigen Verbindung mit Gott gibt es kein Verstellen, kein Verstecken wahrer Absichten, sondern es gilt nur das, was echt jemand glaubt. Denn die Wahrheit kann durch Worte entstellt sein, wir können durch Worte, die den Gedanken folgen, schon bereits lügen, ohne dass uns das bewusst wird. Deshalb ist der Gedanke dann am reinsten, wenn er nicht durch viele Worte in irgendeiner Weise verfälscht werden kann. Auch dies hat Jesus klar betont, als er auf die Art des Betens zu sprechen kam, indem er klarstellte, dass der Betende nicht vieler Worte bedarf (Matthäus 6,7) [7] , denn Gott wisse eigentlich schon, was der Betende wolle.
- Beten ist eine Soloveranstaltung: Für Jesus war es immer so, dass er allein betete und nicht in der Gemeinschaft. Wenn er gebetet hat, war das immer eine Soloveranstaltung: „Und frühmorgens, als es noch sehr dunkel war, stand er auf und ging hinaus und ging fort an einen einsamen Ort und betete dort“ (Markus 1,35). „Er ging auf den Berg, um zu beten“ (Markus 6,46). „Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein“ (Matthäus 14,23). Dass das Gebet keine Gruppen- oder sogar Massenveranstaltung sein solle, geht aus dem beispielhaften Verhalten von Jesus hervor. Es ist die eigentlich logische Folge aus dem Gedanken, dass Beten ein mentaler Vorgang ist, der keiner äußeren Formen bedarf.
- Beten ist keine öffentliche Veranstaltung: Wenn das Beten als mentaler Vorgang gedacht ist, der nicht gemeinsam zelebriert werden sollte, dann ist die weitere Schlussfolgerung auch klar: Beten soll keine öffentliche Veranstaltung sein. Das hat Jesus auch eindeutig so formuliert: „Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten“ (Matthäus 6, 5-6). Diese Ausführungen sind unmissverständlich und bedürfen keiner weiteren Erläuterung.
Jesus hat also eigentlich eindeutige Richtlinien gegeben für das Beten. Die Frage ist, warum die Kirchen sich daran nicht halten. Es hat keine religiösen Gründe, sondern sie liegen in dem Selbsterhaltungsprinzip ihrer Existenz: Um ihre Daseinsberechtigung unter Beweis zu stellen, proklamieren sie eigentlich das Gegenteil von dem, was Jesus gesagt hat: Betet in „Gotteshäusern“, betet gemeinsam und öffentlich, sodass es alle sehen können. Wenn sie das Gegenteil verkündeten, dann wäre die Folge, dass die Menschen nicht mehr in die Kirchen gingen und das Beten als einen solistischen Vorgang allein zu Hause vollzögen, sodass es dann keiner Kirchen mehr bedarf. Sie machten sich dadurch überflüssig – sehr zu ihrem Nachteil und derer, die davon sehr gut leben können. Dies hat mich u.a. auch zu dem Entschluss geführt, aus der Kirche auszutreten [8].
· Gott als bester Freund : Gott als Autoritätsperson gedacht ist für mich tot. Warum sollte ich ehrfurchtsvoll mich verbeugen, Demutsgesten vollziehen, mich hinknien, mich bekreuzigen, die Hände falten, zum Himmel blicken und was er der Gesten noch mehr gibt? Wenn die Gedanken in vorgeprägte Muster vorgeschriebener Gebete gepresst werden, sind sie schon ihrer Würde beraubt, sind sie schon verfälscht und nicht mehr echt, entspringen sie nicht mehr den eigenen Bedürfnissen. Manchmal stelle ich mir vor, dass ich Gott wäre. Wollte ich, dass sich jeden Sonntag zu einer bestimmten Uhrzeit die Menschen sich in einem mäßig belichteten und relativ kalten Raum versammeln und mir immer dieselben Worte und Sätze vorlesen? Wollte ich, dass sie mir immer wieder dieselben Lieder vorsingen? Wollte ich, dass sie sich vor mir verbeugen, dass sie sich selbst durch Knien und andere Demutsgesten erniedrigen? Nein. Das wäre nicht mein Begehr [9]. Warum sollte ein Mensch sich mit mir anders unterhalten als mit einem Freund, als mit einem – wenn er ein Mann ist – seiner besten Kumpels und – wenn er eine Frau ist – mit einer ihrer besten Freundinnen? Wenn Gott zu einem anbetungswürdigen Wesen erhoben wird, dann wird er auch gleichzeitig von Menschen entfremdet. Alle Herrschaftssysteme kranken an der Entfremdung zwischen Herrschern und dem Volk, weil die Herrschenden meinen, über dem Volk zu stehen. Wenn wir Gott anbeten, dann billigen wir ihm diese Art Herrschaft zu, dann machen wir ihn zu einem unnahbaren Wesen, dem wir uns selbst entfremden, dem wir uns unterordnen müssen.
· Wir sind selbst (fast) göttlich : Wir sind gemeinsam mit Gott Schöpfer, weil auch uns diese Schöpfungskraft verliehen wurde. Wir können selbst die Welt erschaffen, wie wir sie haben wollen, wenn wir es nur wollen. Wir haben leider ein paar Einschränkungen, die uns von Gott unterscheiden:
o Die Gesetze sind nicht änderbar : Gott hat als Schöpfer die Gesetze geschaffen, die in ihrer Unerbittlichkeit so funktionieren, dass eben alles so abläuft, wie er es sich vorgestellt hat. Sie gelten für die materielle Welt (die der Mensch mit Hilfe der Naturwissenschaften erforschen kann und weitgehend bereits entdeckt hat), aber auch für die geistige Welt. Die Gesetze der geistigen Welt werden sehr gut in den hermetischen Gesetzen ausgeführt. Nach den hermetischen Gesetzen spielt dabei der Geist die primäre Rolle [10]. Der Geist ist das Ursprüngliche – der Gedanke, der zum Wort und dann zur Handlung führt – der alles generiert. Ein wichtiges geistiges Gesetz ist z. B. das von Saat und Ernte: Was der Mensch sät, das wird er ernten (Galater 6,7), was auch als Grundgedanke Eingang in die fernöstlichen Lehre vom Karma gefunden hat.
o Physische Sterblichkeit : Das, was den Menschen von Gott weiterhin unterscheidet, ist seine physische Vergänglichkeit. Davon unabhängig gibt es aber ein Lebensprinzip, das den physischen Gesetzmäßigkeiten nicht unterworfen ist: der göttliche Lebensfunke, der Seele genannt wird und unsterblich ist. Die Reinkarnationslehre, die leider von den christlichen Kirchen abgelehnt wird, ist die logische Folge dieses Gedankens der Unsterblichkeit der Seele als Wesenskern des Menschen, denn dadurch wird erst das Entwicklungsmöglichkeit geschaffen, die es dem Menschen ermöglicht, begangene Fehler eines Lebens zu korrigieren [11].
o Willensfreiheit als Chance und Risiko : Die Willensfreiheit ist ein Schöpfungsprinzip, das die Chance birgt, alles zu schaffen, was dem geistigen Potential möglich ist, aber auch die Verirrung ist dadurch denkbar, was im christlichen Sprachgebrauch als Sünde bezeichnet wird. Die Verirrung wird geboren aus der Hybris einer von den göttlichen Gesetzen unabhängig gedachten „Selbstverwirklichung“. Wer das geistige Gesetz des Karmas verletzt, muss unweigerlich mit einer „Korrektur“ rechnen, weil sonst das dahinter stehende Gerechtigkeitsprinzip verletzt würde.
· Beten ist anders : Wenn wir über das Beten nachdenken, landen wir unweigerlich in der Falle tradierter Vorstellungen, wie sie uns durch die Religionen vermittelt werden, die aber nur Hilfskonstruktionen darstellen, die von einer falschen Gottesvorstellung ausgehen. Beten als rein mentaler Vorgang ist deshalb anders, weil er an keine festen Formen gebunden ist. Die Grundvoraussetzung ist der „Flow“, das Laufenlassen der Gedanken, das sich nicht Festhalten an bestimmte Rituale, wie sie uns vermittelt wurden. Beten ist für mich die geistige Kontaktaufnahme mit dem nicht in Worte fassenden Gegenüber, das wir traditionell Gott nennen. Da Jesus gesagt, dass das Himmelreich in uns selbst ist (Lukas 17,21) [12] , befindet sich demnach auch Gott nicht „irgendwo da draußen“, sondern in uns selbst, ohne dass er dadurch mit uns identisch ist. Dieses Paradoxon müssen wir aushalten, um der Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Ganz begreifen werden wir es wahrscheinlich nie.
Welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen? Wie so oft wird es bei den essentiellen Fragen immer kompliziert. Für alle eine befriedigende Antwort zu finden ist kaum möglich. Ich bete nicht im traditionellen Sinne, weil sich das für mich nicht echt anfühlt, sondern gestellt, gewollt, eben nicht authentisch. Es ist eine Art nicht in feste Formen gegebene gedankliche Ausrichtung auf Gott als den geheimen Freund, dem ich für mein bisheriges Leben dankbar bin.
© Günther Birkenstock
[2] Neale Donald Walsch, Gespräche mit Gott, Arkana 2009, S. 98: „Erkennt ihr die Partnerschaft? Begreift ihr die Implikationen? Es ist eine heilige Zusammenarbeit – wahrlich eine heilige Kommunion.“ S. 99: „Denke, sprich und handle als der Gott, der du bist .“
[5] Beispiel: Gebetswoche für die Einheit der Christen: https://www.oekumene-ack.de/themen/geistliche-oekumene/gebetswoche/2023/
[7] Er sagte: Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. https://www.bibleserver.com/LUT/Matth%C3%A4us6
[9] Walsch, a.a.O.: Deshalb verbringen die meisten von euch den Großteil ihres Erwachsenendaseins mit der Suche nachm dem „richtigen Weg“, Gott anzubeten, ihm zu gehorchen und zu dienen. Die Ironie bei allem ist die, dass ich nicht angebetet werden will, euren Gehorsam nicht brauche und es nicht nötig ist, dass ihr mir dient .“ S. 87
[10] https://www.puzzle-your-mind.de/die-7-hermetischen-gesetze/ : Gesetz der Geistigkeit, Gesetz der Entsprechung, Gesetz der Schwingung, Gesetz der Polarität, Gesetz des Rhythmus, Gesetz von Ursache und Wirkung, Gesetz der Geschlechtlichkeit.









